Deutschlands Aufschwung ist längst Geschichte
Von Peter Helmes

Geplatzte „Zeitenwende“

Wir erinnern uns alle noch: Es ist noch gar nicht so lange her, da  wandte sich Olaf Scholz in der Pose des Staatsmanns an seine „lieben Bürgerinnen und Bürger“ und verkündete nach Bekanntwerden der Ampel-Pläne zur Aufarbeitung der Haushaltsprobleme nach dem Urteil des Bundesverfassungsgerichts  mit staatsmännischer Geste:

„In Ihrem Alltag ändert sich nichts!“

Das sollte ein Versprechen sein.  Aber wer Augen hatte zu sehen und Ohren zu hören, dem war klar, daß es sich nur um einen Versprecher handeln konnte – oder eine platte Irreführung.

Wie das bei den Bauern angekommen ist, weiß man inzwischen. Ob Bauern, Rentner, Mittelstand: Diese Regierung traut sich nicht (mehr), den Menschen die Lage des Landes ungeschminkt zu schildern. Sie schafft es nicht mehr, staatspolitische Erfordernisse, parteipolitische Ambitionen und die Grenzen ihrer Möglichkeiten miteinander in Einklang zu bringen. Das ist ein grundsätzliches Problem, das kann keine politische Rhetorik überdecken.

Die Aussichten für Europas (ehemaligen) Wirtschaftsmotor sind trübe; letztes Jahr rutschte Deutschland gar in eine Rezession. Doch damit nicht genug. Die Regierung ist gelähmt, und die AfD hat das politische System in die Krise gestürzt: Deutschland in der Depression, in unserem Land ist der Wurm drin.

Seit den Sozialreformen von Kanzler Gerhard Schröder konnte man sich in Deutschland auf zwei Dinge felsenfest verlassen: auf ein solides Wachstum und eine bisweilen schon fast gespenstische politische Stabilität. Damit wurde das Land zum Wirtschaftsmotor, der Europa trotz Weltfinanzkrise und griechischem Beinahekollaps zuverlässig mitzog. Das ist vorbei.

Die Pandemie ist die erste Krise, aus der Deutschland geschwächt hervorgeht. Das Land treibt die EU nicht mehr an, es hinkt ihr hinterher.
Das reale Bruttoinlandprodukt liegt nach dem scharfen Einbruch bei Corona nur knapp über dem Wert von 2019. Die Euro-Zone und Großbritannien, aber vor allem die Schweiz und Amerika erholten sich deutlich schneller.

Deutschland hingegen stagniert, und die Unternehmen blicken pessimistisch in die Zukunft. Als einzige Industrienation rutschte Deutschland 2023 in eine Rezession. Es ist erst das neunte Rezessionsjahr in 75 Jahren Bundesrepublik und damit eine kleine Katastrophe. Für 2024 wird ein Wachstum mit einer Null vor dem Komma erwartet.

Deutschland bald nur noch ein Wohlstandsmuseum?
Der Wachstumsmotor ist zum Bremsklotz mutiert. Das Ausland blickt mit Sorge auf die Metamorphose. Früher herrschte Neid auf die teutonischen Streber mit ihren Exporterfolgen und gesunden Staatsfinanzen. Heute geht die Furcht um, das Land ziehe seine engsten Partner nach unten. Und in Deutschland werden die Mahner lauter, die wie der Ökonom Moritz Schularick klagen, das Land verkomme zum „Wohlstandsmuseum“.

Zugleich wuchs der Sozialstaat seit der Wiedervereinigung kontinuierlich. Der Anstieg des Sozialhilfesatzes in zwei Jahren um ein Viertel ist nur die Spitze des Eisbergs.
Dem Land fehlen Arbeitskräfte, und zugleich macht es bezahlte Arbeit unattraktiv.

Das Wirtschaftswachstum und hohe Steuereinnahmen sorgten dafür, daß die letzten Finanzminister die Fehlentwicklung bezahlen konnten. Doch die Stagnation läßt die Spielräume für großzügige Geschenke schrumpfen. Hinzu kommt eine angesichts der Belastungen durch den Ukraine-Krieg zu strikte Auslegung der Schuldenbremse. Die Verteilkämpfe werden härter, wie die Bauernproteste zeigen. Nach fast zwei Dekaden ist der scheinbar ewige Aufschwung Geschichte.

Das ist die eigentliche deutsche Zeitenwende.
Auch ohne leichtsinnige Haushaltspolitik und ohne die harsche Reaktion der Verfassungsrichter wäre das Perpetuum mobile des unendlichen Wachstums kollabiert. Doch Deutschland verhält sich wie eine Comicfigur, die trotz des sich öffnenden Abgrunds einfach weiterrennt und nicht bemerkt, daß sie gleich abstürzen wird.

Die Ampelkoalition ignoriert die Zeitenwende mit dem neuen Zwang zur Sparsamkeit. Weder entlastet sie die Wirtschaft, noch schafft sie durch Berechenbarkeit Vertrauen. Unternehmen und Konsumenten halten sich deshalb mit Ausgaben zurück. Standortfaktoren wie eine sichere Energieversorgung, eine leistungsfähige Infrastruktur und ein gutes Bildungssystem haben sich verschlechtert, Bürokratie und ineffiziente Verwaltung hemmen die private Initiative. Das Heizungsgesetz steht beispielhaft für das ganze Malaise dieser Politik.

Während der Pandemie und des Energiepreis-Schocks lullten Angela Merkel und Olaf Scholz das Land mit Subventionen ein. Jetzt folgt dem Rausch des Doppel-Wumms der Kater. Auch das Volk will die Zeitenwende nicht wahrhaben und pocht auf die gewohnte Rundumbetreuung des Staats. So herrscht kollektive Depression.

Deutschland ist derzeit eine Ansammlung von griesgrämigen Sauertöpfen, „befeuert“ von übellaunigen und üble Laune verbreitenden „Machern“, die alles Mögliche „machen“ – nur nichts Richtiges. Und: Weder Lindner noch Habeck und erst recht nicht der verschlossene Scholz erreichen die Menschen noch mit ihren Botschaften. Das liegt nicht an den Menschen, die ja eben gezwungen sind, das von den „Machern“ Dargebotene zu ertragen.

Und damit schwindet die politische Stabilität ebenfalls. Schon zu Beginn der Ménage-à-trois war klar, daß eine aus so unterschiedlichen Parteien bestehende Regierung fragil sein würde. Die strukturelle Schwäche führt zu ewigen Richtungskämpfen. In dieser Art Bündnis ist der Kanzler nicht Koch, sondern einer von drei Kellnern. Die Koalition ist so gründlich abgestürzt, daß es keinen Neustart mehr geben wird.

Jeden Kompromiß, den Scholz aushandelt, stellen die Grünen oder die FDP umgehend wieder infrage. Es war nicht klug, daß sich zwei ideologisch entgegengesetzte Parteien ins Lotterbett legten: gemäßigt staatskritische Liberale und eine etatistische Verbotspartei. Aber das ist die neue deutsche Realität. In einem fragmentierten Bundestag gibt es keine Mehrheiten mehr für homogene Bündnisse, auf die sich noch Helmut Kohl oder Gerhard Schröder abstützen konnten.

Solange ein Rechtsblock aus CDU/CSU und AfD ausgeschlossen bleibt, existiert als Alternative vorderhand nur die ungeliebte große Koalition. Die letzte Allianz dieser Art war ein Garant für Blockaden und kostspielige Kompromisse zulasten der Steuerzahler.

Zugleich sind die eigentlich so besonnenen Deutschen unfähig, mit der überall in der westlichen Welt grassierenden Plage des Populismus vernünftig umzugehen. Mit der Finanzkrise ist der Klassenkampf zurückgekehrt. Der Mittelstand sah zu, wie Banken gerettet werden, und fragt sich seither, was für ihn getan wird. Bei der Migration vermischen sich Verteilungsfragen und Überfremdungsängste, also wirtschaftliche Aspekte und Identität. Das macht das Thema so gefährlich.

Wir da unten gegen die da oben – dieser Konflikt wird nicht mehr zwischen feisten Kapitalisten und verelendeten Proletariern ausgetragen, sondern zwischen einer manchmal auch nur scheinbar abgehobenen Elite und allen, die sich abgehängt fühlen und deswegen umso nachdrücklicher darauf pochen, die Mitte der Gesellschaft zu sein: wir Normalen gegen das genderkorrekte, queere und vegane Establishment dort oben.

Auch deshalb erhalten die Gelbwesten in Frankreich oder die demonstrierenden Bauern in den Niederlanden oder Deutschland Zuspruch von Menschen, die noch nie einen Kuhstall von innen gesehen haben. Davon profitieren die Demagogen.

Trump ist der Farbigste von ihnen, er wirkt aber nur wegen der überragenden Stellung der USA „larger than life“. Vielmehr wimmelt es von solchen trüben Figuren. Nirgends tut sich jedoch das politische System so schwer, eine Antwort auf diesen Typus Politiker zu finden, wie in Deutschland.

Die nordischen Länder arrangieren sich mit den Rechtspopulisten. Ihre Demokratie nimmt daran keinen Schaden. Auch die Niederländer sind komplizierte Regierungsbildungen gewohnt und werden Wilders’ Wahlsieg überstehen. In Italien mausert sich Giorgia Meloni trotz postfaschistischem Erbe zur passablen Regierungschefin.

Nur in der Bundesrepublik Deutschland mißlingt, was sonst in Europa halbwegs funktioniert: die Inklusion rechter Protestparteien in das politische System. Die AfD wird mit deutscher Gründlichkeit ausgegrenzt. Das tut der Popularität der Partei zwar keinen Abbruch, macht aber die Bildung handlungsfähiger Regierungen sehr mühsam.

Die Quittung für ihre kurzsichtige Brandmauer-Strategie werden die etablierten Parteien bei den Landtagswahlen in den neuen Bundesländern bekommen. Statt aus der beeindruckenden Erfolgsgeschichte ihrer Demokratie Selbstvertrauen zu schöpfen, starren die Deutschen auf den Fetisch 1933. Aus Angst vor der vermaledeiten Vergangenheit erschweren sie sich die Zukunft.

Die Regierung erzählt Schauermärchen
Die Ampelkoalition spielt dabei eine unrühmliche Rolle. Sozialdemokraten und Grüne schielen auf den kurzfristigen parteipolitischen Vorteil und wittern hinter jeder Kritik gleich eine Verschwörung. Mal destabilisieren angeblich Corona-Leugner das Land, dann sind rechtsextrem unterwanderte Bauern am Werk. Ein willfähriger Inlandgeheimdienst liefert die passenden Stichworte wie die angebliche „Delegitimierung des Staates“.

Wäre es nicht so trist, könnte man darüber lachen: Ausgerechnet die Regierung, die allenthalben vor Verschwörungstheorien warnt, verbreitet selbst Schauermärchen. Das Ganze hat einen ernsten Hintergrund. Die wirtschaftlichen Schwierigkeiten und die politische Nervosität, harte Fakten und weiche Emotionen potenzieren einander.

Zu den Aufgaben einer Regierung gehört es, in anstrengenden Zeiten Lösungen aufzuzeigen und Zuversicht zu verbreiten. Hierbei versagen der maulfaule Kanzler und seine zerstrittenen Partner. Zugleich ist aber auch keine stabilere Regierung oder ein stärkerer Kanzler in Sicht.

Einen Kohl oder Schröder, die dem Land mit Reformen frischen Schub verleihen könnten, gibt es nicht. Es ist der perfekte Catch-22. Nichts ist von Dauer, selbst eine kollektive Depression geht irgendwann zu Ende, aber derzeit herrscht eine bedrückende Ratlosigkeit in Deutschland.

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Das deutsche linksdirigierte Panikorchester
Kommentar von Peter Helmes zu den Reaktionen auf die Bauernproteste

Alles begann damit, daß protestierende Bauern den deutschen Vizekanzler bedrohten, als dieser am Hafen von Schlüttsiel die Fähre verlassen wollte. Aus Sicherheitsgründen mußte das Schiff mit Robert Habeck wieder abdrehen. Wenig später demonstrierten die Bauern in allen Landesteilen, verärgert über eine Regierung, die ihnen kurzerhand Subventionen entzogen hatte. Das Land startete im Gefühl des Ausnahmezustands in das neue Jahr. Aber von allem Anfang an wirkte die Aufregung übertrieben.

Habeck machte, was er am besten kann: Er hielt eine Rede. Und diese schien unter starkem Eindruck seines Erlebnisses in Nordfriesland zu stehen. Es würden Aufrufe zu Umsturzphantasien kursieren, sagte der Minister. Extremistische Gruppen würden sich formieren, völkisch-nationalistische Symbole würden offen gezeigt.

Habeck klang so, als stehe eine Revolution unmittelbar bevor. „Umsturzphantasien heißen nichts anderes, als unseren demokratischen Staat zerstören zu wollen“, sagte er und schloß: «Wehren wir die Bedrohung ab. Haken wir uns unter. Seien wir solidarisch und in dem Sinne patriotisch. In diesen Wochen, und in den nächsten. In dieser Zeit.»

Der deutsche Landwirtschaftsminister, Cem Özdemir, schien ihm recht zu geben: „Das sind Leute, denen geht es nicht um die deutsche Landwirtschaft, die haben feuchte Träume von Umstürzen, und das wird es nicht geben.“

Der bekannte Warngestus
Unter dem Eindruck einer bedrohlichen Situation schafften es die beiden Minister – und einige andere Politiker –, einen legitimen, landesweiten Bauernprotest in die Nähe von Umsturz und Rechtsextremismus zu rücken. In der politisch-medialen Aufregung zeigte sich einmal mehr, daß die vielbeschworene „wehrhafte Demokratie“ in Deutschland in Wahrheit eine hyperventilierende Demokratie ist. Die Statements zeugen aber nicht nur von der Unsicherheit dieser Politiker, sondern auch von ihrer Bequemlichkeit. Die inhaltliche Auseinandersetzung ersetzten sie durch einen allzu bekannten Warngestus.

„Haken wir uns unter“, forderte Habeck die Bürger auf.
Alle sollten zusammenstehen, um die Demokratie zu verteidigen gegen einen inneren Feind. Doch bizarrerweise waren auf den Straßen fast nur Bauern mit Traktoren und wenige radikale Trittbrettfahrer, wie sie fast jede Demonstration mit sich bringt. Die Warnung vor den Rechtsextremisten stand in keinem Verhältnis zu den realen deutschen Vorkommnissen. So melodramatisch die Rede von Habeck war, die deutsche Demokratie war in den vergangenen Tagen nicht einen Moment in Gefahr.

Im Gegenteil, eine Organisation wie die „Letzte Generation“, deren Aktivisten sich auf Straßen klebten, hat der Polizei viel mehr Probleme bereitet. Ganz zu schweigen von den migrantischen Raketen-Randalierern, die es sich zum Silvesterritual gemacht haben, Beamte und andere Bürger anzugreifen. Die Bauern dagegen sind zwar unzufriedene, aber insgesamt friedliche Bittsteller. Auch dies zeigt, daß die rhetorische Wucht, mit der ihnen die Regierung begegnet, völlig unangebracht ist. Während Klimademonstranten mit Nachsicht und Verständnis rechnen dürfen, werden die Diesel-Bauern in Verruf gebracht.

Die Nazi-Keule funktioniert nicht mehr
Was soll aber dieser seltsame Hang zum Katastrophismus? Die politische Betroffenheit scheint ehrlich gemeint, ist keine zynische Inszenierung. Dennoch ist die Warnung weniger harmlos, als sie daherkommt. Sie ist auch ein Mittel, um politische Gegner auszuschalten und die Gesellschaft zu einem kollektiven Gegenprotest zu mobilisieren. Habecks besorgte Rede ist eine Form der Propaganda.

Ähnlich gestaltet sich auch die Bekämpfung der AfD. Die Partei wird vom Establishment als rechtsextrem deklariert, in manchen Bundesländern darf sie – mit dem Gütesiegel des Verfassungsschutzes – sogar als „gesichert rechtsextrem“ bezeichnet werden. Mit realistischer und nüchterner Betrachtung, gar mit gebotener Distanz, hat das wenig zu tun.

Wie die wachsende Popularität der AfD vor allem im Osten Deutschlands zeigt, verliert der Warngestus der etablierten Parteien dadurch zunehmend seine Wirkung. Die Nazi-Keule funktioniert nicht mehr. Bei Umfragen in Brandenburg, Sachsen und Thüringen steht die AfD bei über 30 Prozent, in allen drei Bundesländern wird in diesem Jahr gewählt.

Der „Deportationsgipfel“- ein Theater
Von einem Einsehen scheint die Regierung aber weit entfernt zu sein. Die Mobilisierung der wehrhaften Demokraten ist eher noch rabiater geworden, seit das Recherchenetzwerk Correctiv vor wenigen Tagen das Treffen von „Migrationsverschwörern“ in Potsdam publik gemacht hat. Vertreter der AfD sinnierten mit Rechtsextremisten, Unternehmern und Politikern der Werteunion über die Vertreibung von Millionen von Menschen aus Deutschland. Ausweisen möchten sie angeblich auch eingebürgerte Ausländer, die sich nicht assimiliert haben. Als Rädelsführer trat offenbar der Österreicher Martin Sellner von der „Identitären Bewegung“ auf.

Der Correctiv-Bericht unter dem Titel „Geheimplan gegen Deutschland“ war im Stil eines Theaters abgefaßt, mit Akten und Szenen. Vielleicht ist dies symptomatisch: Wenn die Geschichte ernst – und mit direkten politischen Konsequenzen verbunden – wäre, würde man sie nicht als Theaterstück erzählen.

Die Geschichte hatte gleichwohl den Effekt, das Gefühl einer kollektiven Gefährdung zu vertiefen und die Wachsamkeit der Bürger heraufzubeschwören. Der „Spiegel“ schreibt von einem „Deportationsgipfel“. Politiker und Journalisten warnen wie lange nicht mehr vor der AfD und vor der rechtsextremen Ideologie, die hinter dem Begriff „Remigration“ stehe. Gleichzeitig wird aber auch vor der Verwendung des Begriffs „Remigration“ gewarnt, da damit das Wort auch noch salonfähig gemacht werde.

Der deutsche Bundeskanzler droht den Verschwörern mit dem Verfassungsschutz und ruft auf X zur Geschlossenheit auf: „Daß wir aus der Geschichte lernen, das ist kein bloßes Lippenbekenntnis. Demokratinnen und Demokraten müssen zusammenstehen.“ Dann  demonstrierte er in Potsdam gemeinsam mit Außenministerin Annalena Baerbock unter dem Motto „Potsdam wehrt sich“. Mehr fällt dem immer merkwürdiger, ja hilflos agierenden Kanzler wohl nicht ein. Erbärmlich!

„Gefährliche Nazipartei“, das übliche Muster
Obschon die deutschen Politiker immer wieder geloben, die AfD inhaltlich stellen zu wollen, machten sie, was sie üblicherweise in solchen Situationen tun. Sie diffamierten die AfD kollektiv.

Sie sei eine „gefährliche Nazipartei“, sagte Hendrik Wüst, CDU-Ministerpräsident in Nordrhein-Westfalen. Die FDP-Politikerin Strack-Zimmermann wußte in Richtung AfD zu sagen: „Je größer der Haufen Scheiße, umso mehr Fliegen sitzen drauf.“

Die Gruppe der selbstdeklarierten demokratischen Parteien hat im Umgang mit der AfD nichts gelernt. Selbst wenn sie recht hätte und die AfD die Wiedergängerin der Partei Adolf Hitlers wäre, müßte sie sich eingestehen, daß ihre Strategie zur Bekämpfung dieser Partei gescheitert ist.

In ihrer Verzweiflung scheinen viele Politiker nur noch eine Lösung zu sehen: aus der Ächtung der AfD ein Verbot zu machen.

Im Sinne von: Wir haben gewarnt, die Bürger haben nicht gehört, also muß die Partei verschwinden. Erste Vorarbeiten hat der Verfassungsschutz geleistet, indem er die AfD in Thüringen, Sachsen und Sachsen-Anhalt als „gesichert rechtsextrem“ erklärt hat. Aber auch diese Deklaration macht auf viele Bürger keinen Eindruck mehr. Denn der Verfassungsschutz wird von einem Teil der Bevölkerung nicht mehr als unabhängige Institution gesehen, sondern als Teil einer überparteilichen Anti-AfD-Bewegung.

Die vereinigten Warner
All dies heißt nicht, daß die AfD ungefährlich ist. Während sich das Parteiprogramm insgesamt im erwartbaren Mainstream des europäischen Rechtspopulismus bewegt, zeigen etwas freiere Statements einzelner Exponenten, daß die Partei auch extreme Züge hat. Der Bundestagsabgeordnete René Springer wehrte sich etwa gegen den Eindruck, die Ideen des Potsdamer Treffens seien ein Geheimnis:

„Wir werden Ausländer in ihre Heimat zurückführen. Millionenfach. Das ist kein Geheimplan. Das ist ein Versprechen.“

Springer suggeriert, daß die AfD-Politik dereinst eins zu eins und völlig unverdünnt durchgesetzt werden soll. Demokratie funktioniert anders.

Am Ende sind sich die Grünen und die AfD aber ähnlicher, als sie denken. Die einen warnen vor der Zerstörung des Staates durch Rechtsextremisten, die anderen vor der Migrationskatastrophe. Im Zustand eines permanenten deutschen Warngestus ist man vereint.

Die etablierten Parteien können sich auf den Standpunkt stellen, daß die Gesellschaft eben immer weiter verroht. Naheliegender ist aber der Gedanke, daß viele Leute die Warnungen nicht mehr ernstnehmen, weil sie allzu oft unverhältnismäßig waren: wie jetzt bei den Bauern oder bei gemäßigten AfD-Politikern – bereits aus dem AfD-Parteigründer Bernd Lucke hatte man einen finsteren Antidemokraten geframt.

Vor allem aber gilt es anzuerkennen, daß hinter dem Aufstieg der AfD ein real existierendes politisches Problem steht. Die rechtspopulistische Partei ist ein „one-trick pony“, ihr Thema ist die Migrationspolitik. Solange sich die deutsche Regierung einer pragmatischen und effektiven Asylpolitik verweigert, wird die AfD weiterwachsen. Allen Warnungen zum Trotz.

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Mehr in die Mitte gerückt: 

das neue CDU-Grundsatzprogramm
Von Peter Helmes

„Volkspartei der Mitte“
Die Ära Merkel scheint abgehakt – wie Merkel selbst, die sich zunehmend als Fremdkörper in der CDU gibt (siehe Austritt aus der Konrad Adenauer-Stiftung). Mein Beileid hält sich in sehr engen Grenzen. Die „neue“ CDU beginnt jetzt aber gar nicht erst damit, Wunden zu lecken, sondern greift mit Fr. Merz und C. Linnemann die Herausforderungen beherzt auf. Ich wage keine Prophetie, aber für mich stellt es sich zunehmend so dar, daß Merkel eine Figur der Vergangenheit ist – zumindest in der CDU.

Und das ist jetzt neu – und klar eine Folge Merkelscher Schleierpolitik: Die CDU versucht sich als die wahre Partei der Zeitenwende zu präsentieren. Der Entwurf des neuen Grundsatzprogramms schlägt auf zentralen Politikfeldern Richtungsänderungen vor, zu denen die mit sich selbst ringende Fortschrittskoalition nicht willig oder nicht fähig ist. Darunter sind Punkte wie etwa die Verlängerung der Lebensarbeitszeit, die bei den wenigsten Deutschen Begeisterungsstürme hervorrufen werden. Doch dürfte es auch Bürger geben, die es zu schätzen wissen, daß ihnen eine Partei schon in der Opposition reinen Wein einschenkt.

Und wie ehemals sieht sich die CDU plötzlich wieder als „Volkspartei der Mitte“ mit christsozialen, liberalen und konservativen Wurzeln. In dem Entwurf des Grundsatzprogramms spiegelt sich die vom Parteichef Merz und seinem Generalsekretär Linnemann verfolgte Neuausrichtung hin zu einer klarer erkennbaren Partei der rechten Mitte wider.

Der Programmentwurf macht klar, wohin bei der CDU die Reise gehe. Da sind beispielsweise zu nennen:

- Bekenntnis zu den christlichen Grundlagen,
- deutsche Leitkultur,
- härterer Kurs gegenüber Migranten,
- Forderung nach einem Bekenntnis zum Grundgesetz für Zuwanderer,
- klares Ja zur Schuldenbremse,
- Arbeit soll sich lohnen,
- Energiewende auch mittels Atomkraft

Das neue Programm ist konservativer und kantiger als bisher. Vor allem vollzieht es die Abkehr vom Mitte-Links-Kurs Merkels, als die CDU zwar dauerregierte – aber die CDU bei nahezu jeder Wahl Stimmen verlor –, der Staat sich vor allem in der Migrationspolitik aber machtlos und taub stellte. Das manifestiert sich in einem Schlüsselsatz des CDU-Programms. Aus dem schönen, aber in seiner Pauschalität naiven Wort des Bundespräsidenten Wulff, der Islam gehöre zu Deutschland, formt die „neue“ Union nun eine klare Ansage:

„Muslime, die unsere Werte teilen, gehören zu Deutschland.“ Diese Aussage ist richtig, ebenso wie ihr Umkehrschluß. Diese Klarheit setzt sich auf vielen Feldern fort – Finanzen, Sicherheitspolitik, Energie. Auch daß die CDU wieder von Leitkultur redet, ist nicht „rechts“, sondern spricht der bürgerlichen Mitte aus dem Herzen.

Klarer Kurs in der Migrationspolitik
Die Flüchtlingskrise ab 2015 war eine Folge des große Kontrollverlustes Merkels.  Demgegenüber setzt die CDU jetzt auf die Wiedergewinnung der Kontrolle über die Migration.

„Wir wollen einen Stopp der unkontrollierten Migration und eine Begrenzung der humanitären Migration auf ein Maß, das die Integrationsfähigkeit Deutschlands nicht überfordert und zugleich unserer humanitären Verantwortung gerecht wird“,

heißt es. Erreicht werden soll das neben einem verbesserten Schutz der EU-Außengrenzen vor allem durch die Durchführung von Asylverfahren in sicheren Drittstaaten außerhalb der EU.
Es ist verdienstvoll, daß die CDU diese bisher (gelebte) Marktlücke auf eine Weise schließt,  die jedenfalls über verfassungsrechtliche Zweifel erhaben ist.

Eine ähnliche Wende zeigt sich in der Energiepolitik:
Unter dem Eindruck des Reaktorunglücks im japanischen Fukushima beschloß Merkel 2011 den endgültigen Ausstieg aus der Kernenergie. Die letzten deutschen Kernkraftwerke gingen im April letzten Jahres vom Netz. Der Entwurf des neuen Grundsatzprogramms deutet hingegen einen Wiedereinstieg in die Atomenergie an.

Denn Deutschland könne „zurzeit nicht auf die Option Kernkraft verzichten“.

Die CDU setzt bei der Gesamtenergieversorgung auf „Technologieoffenheit in Anwendung und Forschung“. Dazu gehören laut dem Entwurf Kernkraftwerke der vierten und fünften Generation sowie Fusionskraftwerke. „Wir wollen den weltweit ersten Fusionsreaktor bauen.“

Die CDU rückt wieder nach rechts: in Trippelschritten zwar, aber immerhin. Es ist der überfällige Beginn einer Kurskorrektur.
Unter der Führung Angela Merkels war aus der einst dominanten bürgerlichen Kraft eine Zeitgeist-Partei geworden, die von SPD und Grünen kaum noch zu unterscheiden war. Unter Friedrich Merz könnte sich das ändern – wenn die Partei ihn läßt und wenn ihn selbst nicht der Mut verläßt.

Mit den Eckpunkten des neuen Grundsatzprogramms ist die stärkste deutsche Oppositionspartei erkennbar bemüht, eine Alternative zum linken Mainstream des Landes im Allgemeinen und zur Politik der Ampelregierung im Besonderen zu formulieren. Manches ist klar konzipiert, anderes riecht ein wenig nach Etikettenschwindel, aber in der Summe dürfte dieses Papier den politischen Wettbewerb beleben. Gut so.

„Rechts“ ist kontaminiert
Weil „rechts“ in der Bundesrepublik ein kontaminierter Begriff ist und viele Leute nicht mehr in der Lage sind, zwischen rechts, rechtsradikal und rechtsextrem zu unterscheiden, würden die meisten Autoren, die an dem rund 70-seitigen CDU-Papier mitgearbeitet haben, den ersten Satz dieses Kommentars wohl zurückweisen. Rechts? Gott bewahre! Man bleibe, was man immer schon gewesen sei: christlich-sozial, liberal und konservativ. Trotzdem stimmt der Befund. Der Text ist ein – moderater, keineswegs radikaler – rechter Korrekturversuch.

(Persönliche Anmerkung des Autors: Ich habe in meinem mehr als 65-jährigen politischen Engagement trotz vieler zuweilen tief unter die Gürtellinie zielenden Angriffe nie einen Hehl daraus gemacht, „rechts“ zu sein.)

Erwartbare und wohlfeile Kritik
Viele Vorschläge werden bei den möglichen künftigen Koalitionspartnern nicht auf Gegenliebe stoßen. Und so stößt der Entwurf für das CDU-Grundsatzprogramm sofort auf Kritik.

Islamverbände haben die Passagen zu Muslimen im Entwurf für das neue CDU-Grundsatzprogramm erwartungsgemäß kritisiert. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Mazyek, warf der CDU vor, mit der Formulierung „Muslime, die unsere Werte teilen, gehören zu Deutschland“ am rechten Wählerrand zu fischen. Auch der deutsche Islamrat kritisierte die Passage. Solche Diskussionen seien ausgrenzend, führten zu Verwirrung und erschwerten die Identifikation der Muslime mit Deutschland, sagte dessen Vorsitzender Kesici.

Nach Ansicht des Politologen Jürgen Falter jedoch ist der Satz „Muslime, die unsere Werte teilen, gehören zu Deutschland“ taktisch gut gewählt. Er sagte im Dlf, mit Blick auf die CDU-Wähler dürfte dies mehrheitlich auf Zustimmung stoßen. Es gehe hierbei nicht um christliche Werte, sondern um ein Bekenntnis zu unserer Verfassung. Falter spricht von einer Verschiebung zum Konservativeren hin. Hierbei vollziehe die CDU etwas, das „in der Gesellschaft bereits erfolgt ist“, wenn man sich die Umfragen ansehe.

Wer sagt, der Islam gehöre dazu, so wie es die Christdemokraten Wolfgang Schäuble und Christian Wulff einst getan haben, der sagt auch: Die Scharia gehört dazu. Gläubige Muslime kennen in der Regel keine Trennung von Kirche und Staat. Man kann aber nicht beides haben: islamisches Recht und einen liberalen Rechtsstaat. Man muß sich entscheiden. Ein westliches Land kann Muslimen ein Bekenntnis zu liberalen Werten abverlangen. Es muß das sogar tun, wenn der Anteil der Muslime an der Bevölkerung stetig wächst.

Bekenntnis zur Leitkultur
Auch an anderen Stellen geht das Papier der CDU in die richtige Richtung, gerade auch im Bekenntnis zur Leitkultur. Zu ihr gehören aus CDU-Sicht unter anderem die Achtung der Würde jedes einzelnen Menschen, der Rechtsstaat, Respekt und Toleranz. Diese Leitkultur müsse von allen, die in Deutschland leben wollten, ohne Wenn und Aber anerkannt werden, heißt es in dem Entwurf. Die Leitkultur solle den Zusammenhalt der Gesellschaft sichern.

Es rückt zudem die Forderungen der Mehrheitsgesellschaft an Migranten ins Zentrum und nicht deren Forderungen an den Staat, angefangen beim verpflichtenden Spracherwerb schon im Vorschulalter. Es plädiert für eine robuste Asylpolitik mit Verfahren in sicheren Drittstaaten.

Und es gibt der Mehrheit eine Stimme, die Genderdeutsch als elitären Unfug ablehnt.

Es bekennt sich zur Kernenergie (auch wenn eine deutsche Renaissance sehr unwahrscheinlich ist).

Auch die Politikwissenschaftlerin Ursula Münch sieht im Entwurf den Wunsch der CDU, ihr Profil zu schärfen und sich hin zum Konservativeren zu bewegen. Münch sagte ebenfalls im Deutschlandfunk, es handele sich aber keineswegs um den Versuch, die AfD nachzuahmen. Es sei vielmehr eine Rückbesinnung auf Themen und Positionen, die vernachlässigt worden seien.

Kritik auch an den Vorschlägen zur Sozial- und Arbeitsmarktpolitik
Weitere Kritik gibt es an den Vorschlägen zur Sozial- und Arbeitsmarktpolitik in dem Entwurf. Der Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes, Schneider, sagte dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, in einer Zeit, in der immer mehr Teile der Bevölkerung Abstiegsängste hätten, sei das Papier denkbar ungeeignet, die Menschen zu beruhigen. Das Gegenteil sei der Fall: Der Angriff auf die gesetzliche Rentenversicherung und das Bürgergeld sei kaum zu übersehen. Damit würden „Grundpfeiler“ des Sozialstaats zur Disposition gestellt. (Anm. P.H.: Von Herrn Schneider wäre jede andere Kritik unvorstellbar. Der Mann kann einfach nicht anders.)

Der Entwurf sieht unter anderem vor, daß die Rente durch eine verpflichtende kapitalgedeckte Altersversorgung ergänzt wird. Das Renteneintrittsalter soll an die Lebenserwartung angepaßt werden. CDU-Generalsekretär Linnemann wies darauf hin, dies bedeute nicht automatisch, daß das Renteneintrittsalter damit angehoben werde, da die Lebenserwartung derzeit eher stagniere.

Bekenntnis zu Deutschland als „christlich geprägtes Land“
Ausdrücklich betont der Entwurf, daß Deutschland „ein christlich geprägtes Land“ sei. Die CDU bekennt sich damit also stärker zum „C“ im Parteinamen. Kirchen und Gemeinden seien wichtige Partner bei der Gestaltung des Gemeinwesens und nähmen „eine wichtige Rolle in der öffentlichen Daseinsvorsorge“ ein. Sie seien „gesellschaftspolitische Stabilitätsanker, die Menschen Orientierung geben, Sinn stiften und Seelsorge betreiben“. Christliche Symbole müßten im öffentlichen Raum sichtbar bleiben.

Die CDU bekennt sich zudem zum „Leitbild von Ehe und Familie“.
Zugleich wird Alleinerziehenden sowie Kindern aus bildungsfernen und einkommensschwachen Familien mehr Unterstützung zugesagt. Bildung wird als Schlüssel zu Aufstieg und Integration gesehen.

Das Papier betont weiter: „Jüdisches Leben gehört zu Deutschland“.

Zu Musliminnen und Muslimen heißt es: „Muslime, die unsere Werte teilen, gehören zu Deutschland.“ Ziel sei hier „ein lebendiges Gemeindeleben auf dem Boden des Grundgesetzes“. Der islamistische Terrorismus und der politische Islam werden als unterschätzte Gefahren angesehen.

Drittstaatenlösung und Kontingente im Asylrecht
In der Migrationspolitik fordert die Partei eine Drittstaatenlösung. „Jeder, der in Europa Asyl beantragt, soll in einen sicheren Drittstaat überführt werden und dort ein Verfahren durchlaufen.“ Im Falle eines positiven Ausgangs des Asylverfahrens soll zunächst der sichere Drittstaat dem Antragsteller vor Ort Schutz gewähren. Gleichzeitig soll es jährliche Kontingente schutzbedürftiger Menschen geben.

Zum Thema Klimaschutz heißt es, daß dieser nur marktwirtschaftlich durchzusetzen sei. Die Partei will dem Klimawandel mit Technologie und Anreizen wie dem Emissionshandel entgegentreten.

Mit Blick auf die Rente wird eine „verpflichtende kapitalgedeckte Altersvorsorge“ gefordert.

In den Entwurf, der im Präsidium der CDU und im größeren Vorstand diskutiert wurde, floß  auch das Ergebnis einer Mitgliederbefragung ein, an der sich nach Parteiangaben 65.000 Mitglieder beteiligten. Das Grundsatzprogramm soll für zehn Jahre gelten.

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Schluß mit üppigen Staatsgeldern für fragwürdige „Demokratiearbeiter“!
Von Peter Helmes

Warum finanziert der deutsche Staat zivilgesellschaftliche Organisationen mit fragwürdiger Agenda?

150 Millionen Euro: So viel gab der deutsche Staat im Jahr 2021 für ein Programm namens „Demokratie leben“ aus. Es unterstützt Akteure, die sich, laut eigenen Angaben, dem Kampf gegen Extremismus verschrieben haben und die Demokratie stärken wollen. Das klingt besser, als es ist – doch dazu später mehr und zurück zu dem dreistelligen Millionenbetrag, der Jahr für Jahr in unzählige Projekte und Vereine fließt.

Die Summe sollte auf jährlich 200 Millionen steigen, doch damit ist nun Schluß. Das Haushaltsurteil des Bundesverfassungsgerichts zwingt die deutsche Regierung endlich zum Sparen. Weil die Ausgabensperre greift, ist der Geldfluß für die „Demokratiearbeiter“ gestoppt. So nannte die „TAZ“ liebevoll die Vereine und Organisationen, die sich unter dem Begriff der „Demokratieförderung“ zusammenfinden.

Dort herrscht offenbar Panik, die sich in einem offenen Brief ausdrückt, den rund 50 Organisationen unterschrieben haben. „Eine unterfinanzierte Zivilgesellschaft gefährdet die Demokratie“, heißt es dort. Es drohe das Ende „einer ganzen zivilgesellschaftlichen Landschaft“.

Falscher Begriff von Zivilgesellschaft
Das ist aberwitzig. Zum einen suggeriert der Brief, das Wohl und Wehe der deutschen Demokratie hänge an einigen Dutzend Vereinen, von denen die meisten Bürger noch nie etwas gehört hätten. Das ist maximale Selbstüberhöhung. Zum anderen pervertiert es den Begriff der Zivilgesellschaft. Die ist dadurch definiert, daß sie eben nicht staatlich ist. Eine Zivilgesellschaft, die von der Regierung finanziert wird, ist keine Zivilgesellschaft.

Aber was ist sie dann? Im schlimmsten Fall ist sie ein weitverzweigtes Geflecht, um die Agenda der Regierungsparteien unter die Leute zu bringen – getarnt als gemeinnütziges Engagement. Leider gibt es starke Anzeichen dafür, daß manche der geförderten Organisationen genau das tun.

Exemplarisch sei hier die Amadeu-Antonio-Stiftung genannt, die der deutsche Staat in den vergangenen Jahren mit mehreren Millionen Euro gefördert hat. Ein kurzer Blick in die Bilanz der Stiftung zeigt, daß sie ohne Steuergeld kaum lebensfähig wäre. Es ist nicht ihr einziges grundlegendes Problem.

Gegründet hat die Stiftung Anetta Kahane, die in der DDR für die Stasi spitzelte.
Die Stiftung macht kein Hehl daraus, daß sie genau weiß, was man über bestimmte politische Themen zu denken hat. Dieser Geist wehte auch in der DDR, wo der Staat den Meinungskorridor eng hielt.

Online-Pranger mit Steuergeld
Da paßt es ins Bild, daß die Stiftung immer wieder Agitation betreibt. So verbreitete sie im Jahr 2019 in Kitas eine absurde Broschüre, die Hinweise für Erzieher enthielt, wie man rechtsextreme Eltern erkennen kann. Ein Fallbeispiel daraus ließ sich so interpretieren, daß  ein Mädchen mit Zöpfen, das daheim zur Handarbeit angeleitet wird, unter Umständen rechtsextreme Eltern hat.

Skurril ist auch ihr Online-Meldeportal für antifeministische Vorfälle. Wer Gender-Studies als unwissenschaftlich einstuft oder an einer vermeintlich antifeministischen Veranstaltung teilnimmt, kann dort anonym gemeldet werden. Es handelt sich um eine Art Online-Pranger, den der Staat mitfinanziert. Allein schon weil Denunziation zum Wesenskern totalitärer Systeme gehört, dürfte es so etwas in einer liberalen Demokratie nicht geben.

All das paßt aber ins Weltbild der Ampelregierung…
…und vor allem in die Agenda der grünen Familienministerin Lisa Paus.
Ihr Ministerium ist maßgeblich für die Vergabe der Fördermittel zuständig. Mit dem sogenannten Demokratiefördergesetz wollte sie die horrenden Summen für die „Demokratiearbeiter“ verstetigen.

Der deutsche Staat wird nach dem Haushaltsurteil aber wahrscheinlich hart sparen müssen. Es wäre naheliegend, dann bei Organisationen wie der Amadeu-Antonio-Stiftung anzusetzen. Sie und viele weitere selbsternannte „Demokratieförderer“ stärken linke Partikularinteressen, statt der Allgemeinheit zu dienen.

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Obdachlosigkeit – ein Tabu-Thema
Von Peter Helmes

Wohnen ist ein Menschenrecht, doch in Deutschland steigt die Zahl der Menschen, die keine eigene Wohnung haben. Mehr als 600.000 Menschen waren laut Berechnungen der Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. im Verlauf des Jahres 2022 ohne Wohnung. Davon hatten 50.000 Menschen keine Unterkunft in Hilfseinrichtungen oder bei Freunden und Bekannten – sie leben auf der Straße.

Viele obdachlose Menschen meiden Notunterkünfte; denn dort haben sie keine Privatsphäre, sind Gewalt ausgesetzt oder haben Angst vor Diebstählen und der Willkür des Personals. Außerdem sind solche Einrichtungen oft nach Geschlechtern getrennt, weswegen Paare sie nicht nutzen, oder die Mitnahme von Hunden ist verboten. Deswegen sind Orte wichtig, wo sich Obdachlose im Winter aufwärmen bzw. unkompliziert Hilfe erhalten können.

Obdachlose Menschen werden nicht nur übersehen, sie sind aufgrund ihrer Schutzlosigkeit von Gewalt bedroht und betroffen. Viele Übergriffe sind nicht bekannt; denn Obdachlose melden diese oft nicht. Betroffene berichten von Diskriminierung und Abwertung. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe e.V. hat 13 Todesfälle im Jahr 2022 gezählt, im Jahr zuvor waren es 18.

Der Dortmunder Forscher Dierk Borstel verweist zudem darauf, daß Obdachlosen kaum mit Respekt und ehrlichem Interesse an deren Lebenssituation begegnet werde. Das betreffe auch verantwortliche Stellen, die den Betroffenen helfen sollten.

Momentan sei die Würde von Obdachlosen nicht geschützt. Bei der Frage, wie mit wohnungs- und obdachlosen Menschen umgegangen wird, zeige sich „die Qualität unserer Gesellschaft“, so Borstel.

Die Ursachen von Obdachlosigkeit offenlegen
Ein nationaler Aktionsplan soll dabei helfen, bis 2030 die Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland zu überwinden. Noch ist das Land weit davon entfernt. Die Zahl der Wohnungslosen wächst stetig.

Schätzungsweise 50.000 Männer und Frauen leben in Deutschland auf der Straße, mehr als 600.000 sind wohnungslos. Der Weg zurück in eine eigene Wohnung scheint für viele unmöglich. Dabei ist Wohnen ein Menschenrecht. Und auch aus staatlicher Sicht ist es eigentlich wünschenswert, wenn Menschen in bezahlbaren Wohnraum kommen statt in teuren Wohnheimplätzen untergebracht werden zu müssen.

Schätzung zur Anzahl der Wohnungslosen in Deutschland von 1995 bis 2022 (Statista)

Unterschied zwischen Wohnungslosigkeit und Obdachlosigkeit

Laut der Definition des Wohnungslosenberichterstattungsgesetzes (WoBerichtsG) sind Menschen wohnungslos, wenn die Nutzung einer Wohnung weder durch einen Mietvertrag oder einen Pachtvertrag noch durch ein anderes Recht abgesichert ist oder eine Wohnung einer Person aus sonstigen Gründen nicht zur Verfügung steht. Kurz gesagt: Ein Wohnungsloser hat keine Möglichkeit, in eigenem Wohnraum zu schlafen. Als wohnungslos gilt aber auch, wer nachts noch irgendeine andere Art der Unterkunft findet: in Notfalleinrichtungen, Heimen, Frauenhäusern, oder bei Freunden oder Familienmitgliedern.

Obdachlos ist, wer auch nachts draußen ist. Nur ein kleiner Teil der Wohnungslosen ist auch obdachlos, also komplett ohne Unterkunft, lebt auf der Straße, schläft unter Brücken oder in Zelten. Diese kleinere Gruppe der Wohnungslosen wird allerdings häufiger in der Öffentlichkeit wahrgenommen.

Zählungen sind schwierig, weil nicht alle Wohnungslosen in Notunterkünften untergebracht sind oder die sozialen Stellen für Wohnungslose aufsuchen. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) schätzt, daß in Deutschland im Jahr 2022 etwa 50.000 Menschen auf der Straße lebten, also obdachlos und insgesamt 607.000 Menschen wohnungslos waren.

Das ist ein deutlicher Anstieg gegenüber dem Vorjahr. Den Zuwachs erklärt die BAGW vor allem durch die Zunahme nicht-deutscher Wohnungsloser, insbesondere Geflüchteter aus der Ukraine. Die Unterscheidung zwischen deutschen und nicht-deutschen Wohnungslosen zeigt einen Anstieg von fünf Prozent bei deutschen und 118 Prozent bei nicht-deutschen Wohnungslosen.

Balkendiagramm zur geschätzten Anzahl der Wohnungslosen in Deutschland von 1995 bis 2022. Im Laufe des Jahres 2022 waren in Deutschland insgesamt 607.000 Menschen wohnungslos. Damit ist die Anzahl der Wohnungslosen im Vergleich zum Vorjahr deutlich angestiegen.

Schätzung zur Anzahl der Wohnungslosen in Deutschland von 1995 bis 2022 (Statista)
Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe (BAG W) verwendet ein neues Schätzmodell, das seit 2017 angewandt wird. Die Statistik zeigt, daß der Rückgang von 2016 auf 2017 auf das verbesserte Schätzmodell zurückzuführen ist.

Warum verlieren Menschen ihre Wohnung?
Dafür gibt es zahlreiche Ursachen und individuelle Lebensumstände: Arbeitslosigkeit, Krankheit, Unfall, Sucht, Schicksalsschläge – und dann kommt die Armutsspirale. Arbeitslosigkeit zum Beispiel ist sehr stark mit finanziellen Einbußen verbunden.

Das gilt auch für Schicksalsschläge, erklärt Gerhard Trabert, Gründer und Vorsitzender des Vereins „Armut und Gesundheit in Deutschland“ – also nach einer Trennung, Scheidung, Tod eines geliebten Menschen. „Das ist eine große Palette. Und dieses Ereignis hat Menschen einfach destabilisiert, hat ihnen den Boden unter den Füßen weggezogen. Dann werden andere Dinge vernachlässigt, und dann kommen sie in so eine Armuts-Abwärtsspirale.“

Es kann Menschen also sehr plötzlich treffen. Wenn man dann die Miete nicht mehr zahlen kann, werde zu wenig getan, um proaktiv eine Räumungsklage und den Verlust der Wohnung zu verhindern, so der Sozialmediziner.

Laut den Daten der BAGW hat mehr als die Hälfte der deutschen Wohnungslosen (57 Prozent) ihre Wohnung aufgrund von Kündigungen verloren. Miet- und Energieschulden (21 Prozent), Konflikte im Wohnumfeld (20 Prozent) und Trennung/Scheidung (16 Prozent) sind weitere wichtige Auslöser. Im Gegensatz dazu hatten nicht-deutsche Wohnungslose oft noch nie eine Wohnung in Deutschland, hauptsächlich aufgrund ihrer Flucht.

BAGW-Geschäftsführerin Werena Rosenke betont, daß Inflation, gestiegene Kosten und höhere Mieten einkommensschwache Haushalte belasten, was zu (Energie-)Armut, Mietschulden und Wohnungsverlust führe. Besonders gefährdete Gruppen seien demnach einkommensarme Ein-Personen-Haushalte, Alleinerziehende und kinderreiche Paare.

Wohnungslosigkeit sei das Ergebnis eines krisenhaften Prozesses und nicht der Beginn eines krisenhaften Prozesses, sagt der Forscher Dierk Borstel von der Fachhochschule Dortmund.

„Wenn diese Gründe nicht beachtet werden, dann ist die Wahrscheinlichkeit, daß die Menschen mit der neuen Wohnung zum Beispiel auch nicht wirklich klarkommen, relativ groß. Das heißt, was wir brauchen, ist ein sehr individueller Blick für das jeweilige Schicksal dieser Menschen.“

Warum steigt die Zahl der Wohnungslosen in Deutschland?
In vielen deutschen Städten und teilweise auf dem Land wird es immer schwieriger, bezahlbare Wohnungen zu finden. Das führt dazu, daß es für Wohnungslose noch schwieriger wird, wieder in eine eigene Wohnung zu kommen. Ein wachsendes Problem ist auch, daß  Menschen vermehrt ihre Wohnungen durch Kündigungen verlieren. Manche Vermieter bevorzugen sogar Kündigungen, um die Wohnungen zu höheren Preisen weiterzuvermieten, besonders bei älteren Mietverträgen.

Sozialmediziner Gerhard Trabert weist zudem auf die Vernachlässigung des sozialen Wohnungsbaus, Indexmieten und die Untervermietung zu Tourismuszwecken über Portale wie Airbnb hin.

„In Deutschland leben 57 Prozent zur Miete. Man muß bis zu 30 Prozent des Einkommens für Wohnraum investieren. Also, da ist natürlich etwas strukturell total falsch gelaufen.“ Auch Leerstand und Immobilienspekulation vergrößern das Problem.

Dazu kommt die Diskriminierung auf dem Wohnungsmarkt. Für wohnungslose Menschen ist es noch mal schwieriger als für alle anderen, an eine bezahlbare Wohnung zu kommen.

Wer ist für Obdachlose zuständig, was tut der Staat?
Für Wohnungslosigkeit gibt es unterschiedliche Zuständigkeiten. Ein Teil liegt bei den Kommunen, ein Teil beim Land, weil die Wohnraumversorgung Aufgabe der Bundesländer ist. Nun will die Bundesregierung eine stärkere Koordinierung erreichen und hat einen nationalen Aktionsplan zur Überwindung der Obdach- und Wohnungslosigkeit in Deutschland bis 2030 ausgerufen. Hier sollen auch „bisher wenig verbreitete Ansätze wie z.B. Housing First“ betrachtet werden. Zudem ist die Erhöhung des Angebots an bezahlbarem Wohnraum geplant.

Bis 2030 soll es keine Obdachlosen mehr in Deutschland geben. So will es die Regierung. Das Konzept „Housing First“ ist ein Lösungsansatz, und erste Erfolge sind vielversprechend. Doch es fehlt an Wohnraum.

Außerdem sollen juristische Hürden und Bürokratie abgebaut werden: Wenn jemand Mietschulden hatte und außerordentlich gekündigt wurde, dann aber das Geld zurückzahlen kann, kann die außerordentliche Kündigung aufgehoben werden, erklärt Hanna Steinmüller (Grüne), Mitglied im Bundestagsausschuß für Wohnen. „Es gibt aber mittlerweile immer mehr Vermietende, die zusätzlich auch noch eine ordentliche Kündigung aussprechen.“ Diese bestehe weiter, obwohl es keine Mietschulden mehr gebe. Auf die Änderungen der Schonfristzahlung habe man sich eigentlich im Koalitionsvertrag geeinigt, warte aber noch auf den Entwurf aus dem Justizministerium.

Zudem bedürfe es mehr Zugriff zum Beispiel von Sozialämtern auf Daten, so Steinmüller: „Es gibt ja durchaus Strukturen, um Menschen zu unterstützen. Wie können Sozialämter davon wissen, wo es zu Kündigungen kommt, und aktiv werden? Es ist immer wichtiger und einfacher, die Wohnung zu erhalten, als hinterher mit ganz viel Geld, mit ganz viel Energie zu versuchen, die Menschen wieder von der Straße zu holen.“

Auch den Informationsfluß für die Betroffenen gelte es zu verbessern. „Weil es natürlich auch erst mal eine total bedrohliche Situation ist, viele gelähmt sind und sagen: Oh Gott, da ist jetzt der Brief gekommen mit der Kündigung. Was kann ich jetzt tun? Und deswegen sind mehr  Informationen auch noch ein großes Thema“, sagt Steinmüller.
(Quellen u.a.: Dlf)

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Unsauber und unsozial: 

Klimafonds-Wirtschaftsplan
Von Peter Helmes

Unsaubere Finanzpolitik und unsoziale Klimapolitik – der von der Ampel am 15.11.23  verabschiedete Wirtschaftsplan für den Klima- und Transformationsfonds ist in zweierlei Hinsicht wirklich schlecht gelungen.

Um die Hersteller von Halbleitern nach Deutschland zu holen, gibt der Staat ordentlich Geld aus. Weil der Haushalt wegen der Schuldenbremse tabu ist, schraubt man halt am KTF und macht diesen endgültig zur willkürlich nutzbaren Sonderschatztruhe

Es wird immer heikler in puncto seriöse Finanzpolitik
Nun wird sich die Industrie sicher freuen, daß die Bundesregierung doch noch so einiges an Subventionen lockermacht, auch wenn die FDP standhaft darauf beharrt, davon dürfe es nicht zu viel geben – gleichzeitig gibt sie als Teil der Bundesregierung das Geld mit vollen Händen aus. Und genau hier wird es heikel, gerade in puncto seriöse Finanzpolitik.

Der Bundesrechnungshof betet es regelrecht rauf und runter: Die als Sondervermögen bezeichneten Schattenhaushalte führten zu undurchsichtigen Finanzkonstruktionen und machten so die Gesamtübersicht über die finanzielle Situation Deutschlands schwieriger.

Und – so der Bundesrechnungshof – die Ausgabenpraxis helfe auch nicht bei der Konsolidierung des Haushaltes, sorge also gerade nicht für die von der FDP so sehr gewollte finanzielle Stabilität.

Klimanutzen nicht zweifelsfrei nachweisbar
Dazu kommt der opportunistische Umgang mit dem Zweck des Klima- und Transformationsfonds. Ursprünglich als Energie- und Klimafonds gegründet, wurde sein Zweck schon nach der Corona-Pandemie deutlich geweitet, um der geschundenen Wirtschaft auf die Beine zu helfen. Der Klimaschutznutzen ist nicht immer zweifelsfrei nachweisbar.

Nun kommt ein weiterer Förderzweck dazu: die Mikroelektronik
Deutschland will – als Teil der europäischen Chip-Initiative – unbedingt Halbleiterproduktion ansiedeln, und dafür lassen sich die Hersteller ordentlich pampern. Und weil der Haushalt wegen der Schuldenbremse tabu ist, schraubt man halt am KTF – und weitet den Zweck erneut aus. Mikroelektronik brauche man ja schließlich auch für den Klimaschutz. Der KTF wird damit endgültig zur willkürlich nutzbaren Sonderschatztruhe.

Es ist ja auch verführerisch, weil die Einnahmen sprudeln. Das Geld aus dem europäischen Handel mit CO2-Zertifikaten landet in diesem Topf, ebenso das aus dem national festlegten Preissystem. Wer Benzin, Heizöl oder Gas verbraucht, zahlt für das CO2 in diesen Topf ein.

Die falschen Prioritäten
Eigentlich wollte die Regierung davon etwas zurückgeben – über das sogenannte Klimageld. Für jeden, pro Kopf. Wer wenig CO2 verbraucht, also wenig in den Topf einzahlt, ginge vielleicht sogar mit einem Plus raus. Klimaschutz würde sich spürbar lohnen und sozial gerechter. Nach wie vor hat die Bundesregierung dafür aber keinen Auszahlungsweg geschaffen, also auch keine Gelder aus dem KTF für das kommende Jahr dafür eingeplant. 

Stattdessen wird der nationale CO2-Preis noch erhöht, Sprit teurer – und mit den steigenden Einnahmen für den KTF wird die Industrie subventioniert.

Halbleiterproduktion und gesenkte Strompreise für energieintensive Unternehmen – statt sozialer Ausgleich. Das sind falsche Prioritäten.

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Ist ja irre: Politsplitter aus dem 

Gender-Kauderwelsch

„Josef Lange vermisst die Teilgenommenhabenden

Der Vorsitzende des Rechtschreibrates, Josef Lange, geißelt im Interview mit dem Nordkurier das Gendern und kritisiert die Sender im öffentlich-rechtlichen Rundfunk (ÖRR). Als Beispiel nannte Lange den Bericht des NDR über eine Demonstration. Daran stand sinngemäß, daß die Polizei jetzt bei rund 300 „Teilnehmenden“ ermittle.

Von der Logik sei das schlicht Unsinn. Die 300 Menschen nähmen ja nicht mehr teil, die Demonstration sei vorbei. Wollte man das gendergerecht korrekt angeben, müßten sie als „Teilgenommenhabende“ bezeichnet werden. Bei solchen Wörtern habe Lange seine Schwierigkeiten.

Die Sender gehen aus seiner Sicht über ihren Auftrag hinaus, zur Gemeinschaft in der Gesellschaft beizutragen. Sternchen, Doppelpunkte und andere Genderzeichen seien eine moralische, metasprachliche Aufladung der Begrifflichkeiten, sie führten dazu, daß die Lesbarkeit, Vorlesbarkeit und Verständlichkeit der Texte leide. Außerdem tue man den Schülern, welche die Sprache gerade erst erlernen, keinen Gefallen. Sprachstudien der vergangenen Jahre würden regelmäßig zeigen, daß Kinder die Mindestanforderungen im Sprachunterricht nicht mehr erreichten.“ (Quelle: nordkurier.de)

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„Rechts“ und „links“ politisch aufgeladen

Die rechte Seite wird in den meisten Kulturen mit dem Sakralen, Guten, Schönen assoziiert – aber wann wurde „rechts“ zum Schimpfwort?

Zur Zeit der Französischen Revolution wurde das räumliche Rechts und Links politisch aufgeladen. Eine Kulturgeschichte zweier Begriffe.

Von Peter Hoeres *)

Im Jahr 1909 führte der Soziologe Robert Hertz in einem genialischen Essay die omnipräsente Privilegierung der rechten Hand und die Abwertung der linken Hand auf die Grundunterscheidung von religiös beziehungsweise heilig und profan beziehungsweise böse zurück. Diese hat nur nachgeordnet mit einer physischen Asymmetrie zu tun. Vielmehr wird die rechte Hand und die rechte Seite insgesamt in den meisten Kulturen mit dem Sakralen, Guten, Schönen und Männlichen verknüpft, mit dem Leben schlechthin, die linke dagegen mit dem Profanen, Bösen, Schlechten, häufig auch Weiblichen und dem Tod.

Die Privilegierung der „rechten Seite des Körpers“ stimmt mit derjenigen der „rechten Seite im Raum“ überein, so stehen rechts der Himmel, die Sonne, der Osten mit dem Sonnenaufgang, links die Verdammnis, die Hölle, der Westen mit dem Sonnenuntergang. Die rechte Hand ist die Schwur- und Schwerthand; die linke Hand ist die passive, unreine, tabuisierte Hand, die Hand zur Säuberung von Ausscheidungen.

Die Grundunterscheidung von rechts und links gehört zu den wichtigsten Elementen unserer psycho-physischen Ausstattung. Hertz führte für die universelle Verbreitung des Gegensatzes ethnologische Feldstudien bei den Maori in Neuseeland und anderen früher sogenannten primitiven Völkern an, was später in weiteren Studien vertieft wurde. Wie bei den Maori treffen wir etwa bei den Nyoro in Ostafrika, den Mapuche Südamerikas und den indonesischen Ambonese, aber auch in Europa häufig die normativen Aufladungen von rechts und links an. Die Rechts-links-Unterscheidung ist tatsächlich global.

Umkehrung von rechts und links
Etymologisch gibt es in zahlreichen Sprachen Wortstämme, die rechts mit richtig und gerecht identifizieren, links mit linkisch, lahm, verkehrt oder schwach.

Erinnert sei auch an Redewendungen wie „mit dem linken Fuß aufstehen“, „Nachkomme linker Hand“, „linker Vogel“ oder „left-handed compliments“ einerseits, „to be right“ oder „rechtschaffen“ andererseits.

Mit der rechten Hand begrüßt man die Gäste, mit der rechten Hand opfert und schwört man, und mit dem rechten Fuß betritt man heilige Orte. Kurzum, allerorts treffen wir auf die Vorherrschaft der rechten Seite, häufig mit einer religiösen und moralischen Grundierung.

Als Ludwig XVI. im Mai 1789 zum ersten Mal seit 175 Jahren die Generalstände zusammengerufen hatte, bildete sein erhöhter Thron das Zentrum. Unmittelbar zu seiner Rechten durften die Prinzen, links die Gemahlin und die Prinzessinnen Platz nehmen. Der Klerus als oberster Stand saß zu seiner Rechten, der Adel zu seiner Linken, die Delegierten des dritten Standes gegenüber, am Fußende. Distanz zeigt hier eine weitere räumliche Symbolisierung an.

Als der dritte Stand sich am 20. Juni 1789 mit Einladung an die anderen Stände zur Repräsentanz der Nation und zur verfassunggebenden Versammlung im Ballhaus erklärte, wohin man hatte ausweichen müssen, war die alte Ordnung zerbrochen. Die Tradition wirkte aber weiter. In den verschiedenen Versammlungsräumen der Konstituante, dann der Legislative und schließlich des Konvents stellte sich jeweils eine Rechts-links-Sitzordnung zwanglos wieder ein. Nicht mehr der Stand, sondern das Votum bestimmte nun aber die Platzwahl. Die rechte Seite wurde dabei immer weiter amputiert: Die Aristokraten und Monarchisten schieden aus, die nun gewählten Abgeordneten gruppierten sich unter der Verfassung der konstitutionellen Monarchie vom September 1791 von einer gemäßigten Rechten bis zu den linken Jakobinern. Die Orientierungen wurden von den Stenografen und der Presse übernommen.

Die rechte Seite wurde bald geächtet, keiner wollte dort sitzen, um nicht als Monarchist angesehen zu werden. Die Girondisten als gemäßigte Linke mußten schließlich dort Platz nehmen. Die radikale Linke saß dagegen oben links, Vertreter der Bergpartei (Montagnards) im neu errichteten parlamentarischen Amphitheater. Neben die horizontale Unterscheidung trat die alte vertikale, jetzt saßen die Vertreter des gesellschaftlichen unteren Rangs aber oben links und schauten spöttisch auf die Plaine, den Sumpf, herab. Das Feindbild rechts wird etabliert, „rechts“ wird zum Schimpfwort und Kampfbegriff.

Rechts zu sitzen, sich dort zu verorten, wird lebensgefährlich. Nach dem 2. Juni 1793, dem Aufstand der Pariser Sansculotten, werden 27 Girondisten verhaftet und dann hingerichtet. Das droht auch denen, die dagegen aufbegehren. Nach Einsetzen der Terreur im August 1793 sitzt niemand mehr rechts. Die der dortigen Seite Zugerechneten kommen nicht mehr ins Parlament. Wer links nicht Platz findet, steht oder geht umher. Nachdem die Schreckensherrschaft Robespierres am 8. Thermidor, dem 26. Juli 1794, mit dessen Verhaftung und Hinrichtung beendet worden ist, lost man während der Direktorialverfassung die Sitze im neugebildeten Rat der Fünfhundert alle drei Monate neu aus, um Fraktionsbildungen zu verhindern.

Der Dualismus zwischen links und rechts war aber so fest etabliert, daß er 1814 in die Abgeordnetenkammer zurückkehrte, obwohl es keine organisierten Parteien gab. In der öffentlichen Meinung ist die Rechts-links-Unterscheidung seit den 1820er Jahren in Frankreich präsent. Die Unterscheidung verbreitete sich nun, in Europa über die süddeutschen Kammern ins Paulskirchenparlament, im 20. Jahrhundert dann global. In Lateinamerika ist sie bis heute fest verwurzelt. Auch in den angelsächsisch geprägten politischen Kulturen zog die Unterscheidung ein. Das Zweiparteiensystem in Großbritannien und den USA mit entsprechenden alternativen Bezeichnungen wurde durch die Rechts-links-Semantik ergänzt.

Auf der linken Seite droht Aufruhr
Doch warum war diese binäre Orientierung so erfolgreich? Die dualistische Ordnung war grundsätzlich einfach, verständlich und strukturgebend. Sie symbolisierte die nicht mehr harmonisch gedachte, sondern polare und polemische Ordnung der politisierten Gesellschaft. Eine horizontale Ordnung entsprach zudem der propagierten Égalité besser als eine vertikal-hierarchische. Schließlich knüpfte sie an eine etablierte religiös-soziale Unterscheidung an, die sie aber eben verkehrte. Der dritte Stand etablierte sich nämlich als politischer Corpus in Opposition zur hergebrachten monarchisch-ständischen Ordnung. Damit setzte er sich gleichsam ins Un-Recht, in den Gegensatz zur Ordnung und zum König.

Die linke Seite war die Seite des Aufruhrs, des Widerstandes. Die Jakobiner als radikalste Vertreter dieser Bewegung verstanden das als Aufstand nicht nur gegen die politische, sondern auch gegen die religiöse Ordnung, gegen den Gott der christlichen Religion, der durch eine Vernunft- und Tugendreligion ersetzt werden sollte. Das Schema mußte also umgewertet werden.

Man könnte es so interpretieren, daß die jahrhundertelange Einschreibung der Privilegierung der rechten Seite weiter spürbar blieb, in der Sprache, in der Vorrangschätzung der rechten Seite und Hand. Um diese gefährliche Macht der Natur und des Unterbewußtseins politisch als neue Opposition gegen die Revolution zu ächten, mußte sie mit größtem Aufwand kriminalisiert werden. Die von Ernst Nolte sogenannte „ewige Linke“ als Empörungsbewegung gegen Ungleichheit und Ausbeutung triumphierte hier mit der brutal durchgesetzten Umwertung der Werte und Begriffe.

Die rechte Seite wird im politischen Diskurs derzeit bis in amtliche und offiziöse Dokumente hinein mit kriminell, böse oder unmenschlich in eins gesetzt. Hier tut sich eine tiefe Kluft zur jahrhundertelangen anthropologischen, religiösen, sprachlichen, rechtlichen und künstlerischen Prägung des Menschen auf. Wer bewußt das Verkehrte, Falsche, Queere, Linkische anbetet, stellt sich damit schon symbolisch gegen das Richtige und Rechte, setzt sich in Gegensatz zur universalen Orientierung des Menschen im Kosmos.

Dies ist eine nicht immer vollständig intentionale und bewußte, aber fundamentale Bewegung, die tatsächlich die Zeit seit der Französischen Revolution prägt, sich gegenwärtig verschärft und damit eine Desorientierung des Menschen zur Folge hat. Denn die Rechts-links-Orientierung ist keineswegs obsolet, wie manche Soziologen meinen, sondern wirkt mächtig fort.

Darwinistische Allzweckwaffe
Für einen Naturwissenschafter wie Hoimar von Ditfurth sind die Herausbildung eines unterschiedlichen Leistungsspektrums der Hirnhälften und die Überkreuzsteuerung der Hände eine Leistung der Evolution im Sinne der Spezialisierung. Die Prävalenz der rechten Hand ist der darwinistischen Allzweckwaffe, nämlich „reinem Zufall zuzuschreiben“. Andere Autoren erklären aus der asymmetrischen Struktur der Aminosäuren und dem Ablauf der Eiweißsynthese sowie der daraus folgenden Dominanz der rechten Hand die Assoziation der rechten Seite mit Stärke und das gesamte Entstehen der rechten Ordnung.

90 Prozent der Menschen sind Rechtshänder. Als Quelle der kulturellen Unterscheidung erkannte Hertz jedenfalls den „Gegensatz von sakral und profan“. Hier treten wir freilich in den Bereich des Mythos ein. Die universale Orientierung ist demnach eine gegebene und aufgegebene, eine Orientierung auf das Heilige, auf Gott hin, die der Conditio humana eingeschrieben und protohistorisch ist. Sie entsteht immer wieder neu und spontan und entzieht sich damit politischen Moden und allen Umwertungsversuchen. Sie verweist vielmehr auf den Homo religiosus, der sich nach dem Hellen und Schönen ausrichtet und sehnt und nach Erlösung strebt. Er hegt die Hoffnung, dereinst zur Rechten Gottes gerufen zu werden, dort, wo der Menschensohn ist. So hat ihn der erste Märtyrer Stephanus beim Blick in den Himmel während seiner Steinigung gesehen.

*) Quelle: NZZ, 31.10.2023. Peter Hoeres lehrt neueste Geschichte an der Julius-Maximilians-Universität Würzburg. 

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In Putins Augen ist Lenin ein Zerstörer
Von Peter Helmes / Eigener Bericht

Aus Sicht der heutigen russischen Führung unter Putin ist Lenin kein Vorbild, sondern ein Antiheld. Das verwundert viele Beobachter, weil gerade Putin immer wieder Nostalgie für die Sowjetunion nachgesagt wird. Mit deren Gründer Lenin hat er aber schon mehrmals abgerechnet. Ihn sieht er auch an der Wurzel des Ukraine-Krieges. Lenin-Statuen stehen aber auch 100 Jahre nach dem Tod des Revolutionärs noch in vielen Städten der untergegangenen Sowjetunion.

Russlands Präsident Wladimir Putin hat seine Geschichtsliebhaberei zur Waffe gemacht. Die ideologische Grundlage für die Invasion in der Ukraine bildet seine eigenwillige historische Interpretation der russisch-ukrainischen Geschichte. In einem Aufsatz vom Sommer 2021 legte er dar, weshalb es eine ukrainische Nation gar nicht gebe. Ukrainer und Russen seien ein Volk.

Kurz vor dem Einmarsch am 24. Februar 2022 wiederholte er die Argumente in einer Fernsehansprache. Er identifizierte darin auch einen Schuldigen für die Lage, in die Russland und die Ukraine, historisch gesehen, geraten seien: Wladimir Iljitsch Uljanow, genannt Lenin, den bolschewistischen Theoretiker, Revolutionär und Begründer der Sowjetunion.

Der Held der Oktoberrevolution von 1917, an den bis heute in Russland und in ehemaligen Sowjetrepubliken unzählige Straßen, Plätze und Denkmäler erinnern, starb am 21. Januar 1924, also vor hundert Jahren. Davor aber legte er, wie Putin einmal sagte, „eine Mine“ oder gar „Atombombe“ unter das Staatsgefüge namens Russland. Lenin ist in Putins Augen und aus Sicht der heutigen russischen Führung kein Vorbild, sondern ein Antiheld.

Bezugsgröße ist das Zarenreich
Auf den ersten Blick mag das erstaunen. Putin wird gerne mit der Sowjetnostalgie in Verbindung gebracht. Eine seiner bekanntesten Wendungen ist diejenige vom Untergang der Sowjetunion als der größten geopolitischen Katastrophe des 20. Jahrhunderts. Seine Politik gegenüber den ehemaligen Sowjetrepubliken legt nahe, daß er das 1991 zerfallene Imperium wiederbeleben möchte. Soweit sich Putin die Sowjetunion zum Vorbild nimmt, sind aber nicht Lenin und die Oktoberrevolution seine Bezugsgrößen, sondern die Sowjetunion Josef Stalins und später Leonid Breschnews.

Stalins Repressionspolitik verurteilte er in der Vergangenheit mehrmals, aber Putin läßt sie als schwarzen Fleck inmitten sonst beeindruckender Errungenschaften erscheinen – der Zentralisierung und Festigung des Vielvölkerreichs, der Industrialisierung und des Siegs über Nazideutschland im Zweiten Weltkrieg. Putins eigentliches historisches Vorbild ist allerdings weniger der kommunistische Staat als das zaristische Russische Reich.

Schrecken der Revolution und Ideologie
Sein Argwohn und seine Abneigung gegenüber Lenin liegen wohl gerade darin begründet: Lenin war Zerstörer, nicht Bewahrer der Staatlichkeit, ein Revolutionär, getrieben von Überzeugungen. In beidem ist er ein Gegenbild zu Putin. Dessen ursprüngliche Mission war es, die vom Zerfall bedrohte Russische Föderation wieder straff auf das Zentrum auszurichten, Regionen den Eigensinn zu nehmen und das Land zu stabilisieren.

Eine kohärente politische Ideologie verfolgte Putin dabei nie, er war vom Pragmatismus des Machterhalts geleitet. Auch die jüngste Ideologisierung Russlands unter dem Vorzeichen konservativer, antiliberaler Vorstellungen ist vor allem Mittel zum Zweck, nicht wirklich verinnerlichte Überzeugung. Das zeigt auch ihr Eklektizismus, in dem die Anknüpfung an sowjetische Praktiken und Organisationen mit gesellschaftspolitisch archaischen Moralvorstellungen der orthodoxen Kirche zusammenkommt.

Politisches Aufbegehren oder gar eine Revolution ist Putins Schreckbild schlechthin. Das zeigen die über Jahre gepflegte Paranoia gegenüber den sogenannten „farbigen Revolutionen“  im postsowjetischen Raum und die russische Reaktion auf den Maidan 2013/14 in Kiew. Jeglicher Widerstandsgeist der Bürger und vor allem Versuche, politische und gesellschaftliche Strukturen dafür zu schaffen, wurden unter Putin in den vergangenen Jahren konsequent unterdrückt und strafrechtlich verfolgt.

Der „rote Oktober“ 1917 jedoch führte zu all dem: zu zeitweiligem Zerfall des Imperiums, zu einem für Russland unvorteilhaften Separatfrieden im Ersten Weltkrieg und zu einem Bürgerkrieg, der noch Jahrzehnte in der Gesellschaft nachwirkte. Putin verweigerte sich 2017 den Feierlichkeiten zum hundertsten Jahrestag der Oktoberrevolution, was damals weitherum Verwunderung und Unverständnis auslöste.

Die Ukraine als Lenins Konstrukt
Putins Hauptvorwurf an Lenin sagt viel über das eigene Staatsverständnis aus. Dieser habe bei der Gründung der Sowjetunion einen Staatsaufbau bevorzugt, der im Widerspruch zur tausendjährigen Geschichte Russlands stehe, die stets streng zentralistisch organisiert gewesen sei, sagte Putin 2019. Indem Lenin den neuen Staat als Konföderation der Nationalitäten mit Recht auf Austritt konstruiert habe, habe er von Anfang an eine Mine unter die Staatlichkeit gelegt; umso mehr, als die Grenzen willkürlich festgelegt worden seien.

Hinzu kam, daß die Kommunistische Partei die grundlegende Stütze des Staates bildete. Als die Partei und deren Ideologie ihre Ausstrahlung verwirkt hatten, mußte das, so Putins Sicht, auch zum Ende des Staatswesens führen.

Die Ukraine ist Putins zentrales Beispiel für die drastischen Konsequenzen von Lenins Politik.
Er ist davon überzeugt, daß es ohne den bolschewistischen Revolutionär die Ukraine in der Form, wie sie bis 2014 existierte, gar nicht gegeben hätte. In der Fernsehansprache vom 21. Februar 2022 nannte Putin deshalb Lenins Staatskonstrukt „schlimmer als einen Fehler“ für das Schicksal Russlands und seiner Völker. Daraus leitet er heute den Anspruch auf den Donbass und die Südostukraine, selbst auf Charkiw, Odessa und eigentlich auch auf Kiew, ab. Das alles sei „historisches russisches Territorium“ und nur durch Lenins fehlgeleitete Politik der Ukraine zugeschlagen worden.

Putins Sicht auf Lenins Nationalitätenpolitik unterschlägt allerdings, daß diese nicht aus dem Nichts kam. Im 19. Jahrhundert hatte sich ein ukrainisches Nationalbewußtsein herausgebildet. Wie in anderen Teilen des sich auflösenden, vom Bürgerkrieg erschütterten Reiches auch erkannten die Ukrainer nach der Revolution 1917 eine Chance für Eigenständigkeit und Unabhängigkeit. Die Gewährung von Autonomierechten für die Völker des Imperiums und die Förderung von deren Sprache und Kultur waren in der Frühphase der Sowjetunion ein Mittel dazu, den bolschewistischen Staat zusammenzuhalten.

Lenin bleibt beim Volk populär
Die Verachtung für Lenin und die Obsession mit dessen angeblichen politischen Fehlannahmen teilt Russlands Gesellschaft kaum. In einem Interview im Hinblick auf das Revolutionsjubiläum 2017 verwies der Petersburger Historiker Boris Kolonizki darauf, daß  die Erinnerung an die Oktoberrevolution und die frühe Sowjetunion bis heute Lenin-zentriert sei. Die russische Führung trägt dem Rechnung, indem sie nie Hand ans Lenin-Mausoleum, an Lenin-Denkmäler und an Lenin-Straßen legte.

Im Gegenteil mutet es fast paradox an, daß just in den im Zuge des Krieges einverleibten „neuen Gebieten“ im Donbass und im Südosten der Ukraine zuvor getilgte sowjetische Straßennamen, Lenin-Büsten und andere kommunistische Symbolik auferstehen, obwohl in Putins Augen der Revolutionär diese Territorien Russland weggenommen hatte.
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Putin schreibt ein Pamphlet eines großrussischen Nationalisten
Wladimir Putin erklärt die Ukrainer zu Russen und leitet daraus Besorgniserregendes ab

Der russische Präsident hat sich einmal mehr als Historiker versucht. In einem Aufsatz begründet er, weshalb die Ukrainer und die Russen ein Volk seien, aber von außen auseinandergetrieben würden. Der Text ist politisch brisant.

Sowjetische Revolutionäre und Staatschefs hinterließen gesammelte Werke mit Dutzenden von Bänden. Als Theoretiker des heutigen Russland versteht sich Wladimir Putin nicht. Je länger er an der Macht ist, desto stärker interessiert er sich indes für Geschichte und das historische Erbe. Fachhistoriker fragen sich besorgt, was es bedeute, wenn der Präsident selbst zur höchsten historischen Instanz werde. In der „korrekten“ Beurteilung des Zweiten Weltkriegs und seiner Vorgeschichte beansprucht Putin das seit einem Jahr bereits für sich.

Jetzt hat er – auf der Website des Kremls, aber unterschrieben nur mit „W. Putin“ – einen neuen, als wegweisend zu verstehenden Aufsatz veröffentlicht. Er ist überschrieben mit „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ und liest sich wie eine Mischung aus Seminararbeit und politischem Pamphlet. Aber es ist mehr als der geschichtswissenschaftlich mißlungene Versuch eines Hobbyhistorikers. Das Werk gibt Einblick in Putins Denken und in Szenarien künftiger russischer Politik. Es rechtfertigt territoriale Ansprüche ebenso wie ein Eingreifen jeglicher Art – stets vorgeblich zugunsten der Ukrainer, die es als eigenständiges Volk gar nicht gebe. Die Ukraine kommt darin nur in Abhängigkeit von Russland vor.

Projekt eines „Anti-Russlands“
Die These, die Russen und die Ukrainer seien ein Volk, vertritt Putin seit Jahren. Für das Nachbarland hat sie etwas Bedrohliches, das durch die Einverleibung der Krim, die Aufwiegelung und Einmischung im Donbass sowie die immer wieder unverhohlen formulierten territorialen Begehrlichkeiten im Süden und Osten der Ukraine ganz real geworden ist. Der Militäraufmarsch entlang der ukrainischen Grenze im Frühjahr – angeblich ein Manöver als Reaktion auf Nato-Aktivitäten – zeigte, welch immense strategische Bedeutung der Kreml der Ukraine zumisst und wie wenig er deren eigenständige außenpolitische Orientierung zu tolerieren geneigt ist.

Um das Erscheinen des Aufsatzes zu begründen, verwies Putin in einem nachgeschobenen Fernsehinterview auf einen auch im Text selbst geäußerten Gedanken: Auswärtige Mächte wollten in der Ukraine ihr Projekt eines „Anti-Russlands“ verwirklichen. Mittlerweile habe auch die militärische Vereinnahmung des Landes begonnen, das ganz direkt unter auswärtiger Verwaltung stehe und damit Russlands Sicherheit bedrohe.

„Wir werden nie akzeptieren, daß unsere historischen Territorien und die dort lebenden, uns nahen Menschen gegen Russland verwendet werden.“ Wie in der Gesellschaft, so sei es auch zwischen Staaten: Die Freiheit des Einzelnen sei begrenzt durch die Freiheit der Übrigen. Echte Souveränität werde es für die Ukraine nur in Partnerschaft mit Russland geben, davon sei er überzeugt.

Auch das Projekt „Anti-Russland“ verortet Putin historisch:
Bereits im 17. und 18. Jahrhundert habe die polnische Rzeczpospolita angebliches ukrainisches Nationalbewußtsein nur zum Zweck der Abgrenzung zu Russland gefördert, und vor dem Ersten Weltkrieg habe das österreichisch-ungarische Kaiserreich dies wiederholt. Durch den ganzen Aufsatz zieht sich der Topos, der Putins Denken grundsätzlich – auch gegenüber seiner eigenen Bevölkerung – prägt und der von Anfang an ebenso für den Blick der russischen Propaganda auf die Revolution 2014 auf dem Maidan galt: Die Bevölkerung erscheint nie als politisches Subjekt, sondern stets als Objekt auswärtigen Handelns.

Nur zusammen mit Russland
All die Schalmeienklänge im Text über die Freiheit jedes Landes, seinen Weg selbst zu wählen und seine Kultur selbst zu prägen, prallen an der Ausgangsposition ab: Die Ukraine könne es nur zusammen mit Russland geben. Der „historisch-geistige Raum“, die „Grundlagen des gemeinsamen Glaubens und der kulturellen Traditionen“ und die schulbuchmäßig erzählte Geschichte der wechselhaften Herrschaftsräume auf dem Gebiet der Ukraine begründen diese Position mittels einer historiografisch völlig unzulänglichen, statischen Interpretation von „Volk“ und „Nation“.

Nachdrücklich verweist er immer wieder auf das einigende Band der russischen Sprache und benutzt den in der Ukraine als herablassend empfundenen Begriff „Kleinrussen“ für die Bevölkerung. Erstaunlich ist deshalb, daß der Aufsatz auf der Kreml-Seite auch auf Ukrainisch publiziert wurde.

Die Ukraine sei nur dank der Sowjetunion zu dem geworden, was sie heute darstelle.
Das ist in Putins Sicht auch ein springender Punkt für die eigentlich bloß geborgte Unabhängigkeit. Mit den Gründungsvätern der Sowjetunion geht er, nicht zum ersten Mal, harsch um. In zwei Grundprinzipien der Union der sozialistischen Sowjetrepubliken sieht er das Übel von deren Zerfall 1991 bereits angelegt: in der Möglichkeit, aus der Union freiwillig auszutreten, und in der Alleinherrschaft durch die Führung der Kommunistischen Partei.

1922 sei die Ukraine auf Kosten des historischen Russland zur Sowjetrepublik geworden. Das hätten die Bolschewiken zugelassen; Russland sei faktisch beraubt worden um weite Teile dessen, was heute die Ukraine sei. Aber weil es den Gegnern Russlands nütze, wenn Russland geschwächt sei, habe das nie jemand als Verbrechen an Moskau gewertet. Aus dieser Stelle und vielen anderen Äußerungen spricht der beleidigte großrussische Nationalist, der weniger der Sowjetunion als dem Russischen Reich nachtrauert.

Pandorabüchse territorialer Forderungen
Die Schlüsse, die Putin aus dieser Interpretation zieht, sind politisch brisant und öffnen potenziell die Pandorabüchse für territoriale Forderungen – nicht nur an die Ukraine.
Putin schreibt nämlich, es wäre unter diesen Umständen nichts als gerecht gewesen, wenn die Sowjetrepubliken beim Austritt 1991 aus der Union in den Grenzen von 1922 unabhängig geworden wären. Daraus, daß sie es nicht geworden sind, leitet er das Recht der Russen auf eine besondere Beziehung ab. Einmal mehr verurteilt er die angebliche Diskriminierung der Russischsprachigen. Für sich selbst nimmt er in Anspruch, viel für den Frieden im Land getan zu haben. Aber so, wie sich Kiew verhalte, mache es den Eindruck, als brauche es den Donbass nicht.

Ukrainische und oppositionell gesinnte russische Kommentatoren sehen in dem Aufsatz die geistige Vorarbeit für eine neuerliche militärische Einmischung in der Ukraine, die Einverleibung des Donbass oder die Anerkennung der Unabhängigkeit der russisch kontrollierten Separatistengebiete, in denen Russland großzügig Pässe verteilt.

Regimetreue, nationalpatriotische Kommentatoren und Politiker frohlocken mit denselben Argumenten: Endlich zeichne sich ab, daß Putin gewillt sei, das Werk in der Ukraine zu vollenden, die verlorenen Territorien heimzuholen und nach der Schande von 1991 die Mission der Wiedervereinigung des „dreieinigen Volkes“ aus Russen, „Kleinrussen“ und Weißrussen zu vollziehen. (Quelle: NZZ, Markus Ackeret, Moskau)

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Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Freunde,
das mag für heute genügen.
Ich wünsche Ihnen und Ihren Nächsten einen guten Jahresanfang, zudem den Schutz Gottes und, wie stets an dieser Stelle, uns allen eine bessere Politik.
Mit herzlichen Grüßen und bestem Dank für Ihre Treue,
Ihr
Peter Helmes
Hamburg, 30. Januar 2024
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